Lieber Matis,
dieses Wochenende war (ist) wunderschön, oder? Draußen blühen die ersten Bäume und Blumen, die Sonne scheint, die Luft ist warm und man kann schon draußen sitzen. Wunderschön. Soweit.
Was denkst Du über das Thema Ukraine? Mich belastet das. Ich bin völlig erschüttert, wenn ich täglich die Nachrichten lese. Ich habe nun beschlossen, das zu tun, was ich kann und nicht mehr. Ich glaube, es hilft niemandem in der Ukraine, wenn ich mir täglich Nachrichten über Raketeneinschläge durchlese oder anhöre. Ich tue das, was ich kann. Ich spende Geld, damit es in der Ukraine für Medikamente oder für Lebensmittel eingesetzt werden kann, ich habe in Junkersdorf und über ein anderes Netzwerk angeboten, Flüchtlinge zu unterstützen, notfalls indem sie vorübergehend hier wohnen. Das ist nicht viel, aber mehr geht auch nicht.
Hast Du Dich mal mit dem Thema Propaganda auseinandergesetzt? WARTIME LIES. So heißt ein mittlerweile weltberühmter Roman von Louis Begley, den ich vor gut 25 Jahren gelesen habe. Es geht darin noch nicht einmal um Kriegspropaganda, sondern darum, wie sich ein kleiner jüdischer Junge mit seiner Großmutter und seiner Tante aus Warschau kommend im zweiten Weltkrieg durchgeschlagen hat und mit Lügen den Krieg überlebte. Der Autor, der das so selbst erlebt hat, schämt sich als nunmehr 57-Jähriger dafür – das ist Kernanliegen des Buches -, weil andere jüdische Kinder nicht überlebt haben und er sich „durchgelogen hat“, teilweise soweit gehend, dass er seinen jüdischen Glauben verleugnet hat und in einer katholischen Kirche zu Erstkommunion gegangen ist.
Aber was ist mit den anderen Lügen? Putin erzählt seinem Volk, man würde die Ukraine „entnazifizieren“ und „demilitarisieren“. Er verkauft seinen Leuten einen Krieg, der an Brutalität nur seine eigenen Greueltaten in Grosnij und Aleppo erreicht, als eine notwendige „Spezialoperation“ zu diesem Zweck. Er schickt dafür junge russische Wehrpflichtige in eine Schlacht, aus der viele von ihnen nicht lebend herauskommen werden.
Das alles sehen wir als so absurd, als so grausam, als so widerlich an, weil wir der sogenannten „westlichen Propaganda“ folgen. Weil wir die Welt mit unsere Augen sehen. Aber wie geht es wohl einem 16-jährigen russischen Jungen damit? Meinst Du, er glaubt an die „gerechtfertigte Spezialoperation“ und dass die Menschen in der Ukraine das „verdient“ haben? Vermutlich schon. Er hat ja keine Möglichkeiten, sich anderweitig zu informieren. Die westlichen Nachrichtenportale und Social Media-Kanäle sind in Russland abgeschaltet oder funktionieren so langsam, dass ein 16-jähriger Junge vermutlich sehr schnell die Geduld verliert, bevor er auch nur eine Nachricht dort abfragen könnte (die übrigens vielfach immerhin in russischer Sprache veröffentlicht werden). Er hat keine Möglichkeit, seine Eltern, Onkel oder Tanten zu fragen, weil die entweder von der Propaganda von Putin überzeugt sind oder weil sie nichts Anderes sagen dürfen, ohne dafür schwer bestraft zu werden.
Wie meinst Du, sollte ein 16-jähriger russischer Junge erkennen können, dass Putin ihn belügt. Dass die Aussage „der Westen will Russland und alles Russische zerstören“ (Originalton Putin vom letzten Freitag) schlicht falsch ist (wie auch Präsident Biden gestern in seiner Rede in Warschau klargestellt hat). Der 16-jährige russische Junge müsste schon ein echter IT-Freak sein, sich über VPN in westliche Kanäle einloggen und dann auch noch – das ist das Wichtigste – daran interessiert sein, die Wahrheit herauszufinden. Natürlich ist es so, dass ganz viele 16-jährige besonders daran interessiert sind, die Dinge, die ihnen die Erwachsenen erzählen zu hinterfragen. Aber, wie gesagt, er müsste schon sehr IT-technisch begabt sein. Seine Eltern und Verwandten zu befragen wird nicht helfen, weil die (unter massiven staatlichen Strafandrohungen) nichts Anderes sagen dürfen.
Meinst Du, es wird ihn glücklich machen, die Wahrheit zu erfahren? Dass Putin ihn und das ganze russische Volk dreist und mit brutalen Mitteln (er erfindet jeden Tag neue und zwar drakonische Strafgesetze für diejenigen, die gegenteilige Behauptungen aufstellen) belügt, um seine widerliche Rache gegen das „Westliche“ umzusetzen?
Nein, ich glaube nicht, dass es ihn glücklich machen wird. Aber wenn schon Louis Begley – wie der Roman Wartime Lies zeigt – mit den Lügen, die ihm das Leben gerettet haben, als 50-jähriger Mann schlecht umgehen kann. Um wie viel mehr wird ein russischer 16-jähriger Junge dann in 10 Jahren oder 20 Jahren, wenn er mal die Wahrheit dessen, was in der Ukraine passiert ist, erfährt, darunter schwer leiden und sich lebenslang Vorwürfe machen, dagegen nicht eingeschritten zu sein.
Was meinst Du?
Liebe Grüße schickt Dir Dein nachdenklicher Papa
P.s.: Gestern Abend in der Kirche wurde das Gleichnis vom verlorenen Sohn besprochen. Es sei eigentlich das Gleichnis der weit offenen Türen und der weit offenen Arme, meinte der Pfarrer. Lieber Matis, I couldn’t agree more!