Lieber Matis,
kennst du das Computerspiel „The Last of Us“? Offenbar gibt es das schon lange (seit 2013) und war/ist ein echter Hit. Die Menschheit nach einer Pandemie und zwei Leute (ein Mann und ein Mädchen) werden aus einer Enklave herausgelassen und sehen und erleben die zerstörte Welt (richtig?). Mehr weiß ich nicht. Ist das spannend? Mich würde natürlich interessieren, was du davon weißt und dazu denkst. Am Montag erscheint dazu ein Film auf einem Streaming Portal (nicht Netflix); dadurch habe ich überhaupt erst davon erfahren.

Ich habe mich in den letzten Wochen ein wenig mit den alten Philosophen befasst. Ich habe zwar nicht Aristoteles gelesen, aber der taucht immer wieder auf, weil er die Weichen gestellt hat mit seinem Naturalismus und seiner Eudämonie (= einen guten Dämon haben). Er war ja auch der Lehrer Alexanders des Großen, und ein großer Fan von Alexander dem Großen war (ist?) … Matis.

Weißt du, was gerecht ist? Was ich als gerecht empfinde? Wohl kaum. Das wäre ja viel zu subjektiv.
Jedem das Seine (suum cuique), sagten die alten Griechen und die Römer. Aber was ist „das Seine“? Platon sah dies zunächst darin, dass jeder das beitragen solle, wozu er imstande sei. Und gerecht bin ich als Mensch, wenn ich dem anderen das Seine gebe. Das ist also immer auf einen anderen, auch auf die Gesamtheit der anderen, bezogen. Aber es geht ja auch darum, dass ich von den anderen das fordern kann, was mir zusteht und was das Gemeinwesen mir zu geben hat. Das Seine sind also ganz fundamentale Dinge, wie die Menschenwürde und Grundrechte. Aber das Seine liegt auch weit jenseits von rechtlichen Fragen, beispielsweise der Gruß, dem man einem anderen im ethisch-moralischem Sinn schuldet oder die Achtung der Privatsphäre des anderen. Gehst du noch mit? Diese Überlegungen gehen auf Aristoteles, die Nikomachische Ethik, zurück.

Woher dieser Name? Nikomachos was der Sohn des Aristoteles. Aber sein Vater hieß auch so. Vielleicht hat er diese Schriften beiden gewidmet.
Das Seine ist also etwas, das wohl nicht nur auf Rechtsnormen beruht. Sowohl die Menschenwürde wie auch andere Grundrechte, aber auch eher dem „Anstand“ zuzuordnende ethische Grundsätze sind vorgesetzlich oder aber davon schlicht gar nicht erfasst.
In diesem Zusammenhang ist ein wichtiges philosophisches Problem der „Tyrannenmord“. Darf ein Tyrann, der selbst den Menschen nicht das „Ihre“ gibt, sondern die Menschenwürde und sonstige Gesetze des Gemeinwesens durch Grausamkeiten in schwerster Weise verletzt, beseitigt werden? Das ist ein schwieriges Thema, für das selbst Aristoteles keine wirkliche Lösung anbietet. Mit Kant, der dem Tyrannenmord sehr skeptisch gegenüber stand, könnte man immerhin sagen, dass der von ihm geprägte kategorische Imperativ (Handle immer so, dass deine Handlung als Maxime eines allgemein gültigen Gesetzes gelten könnte) auch dazu anhält, aktiv einzuschreiten, denn mein Unterlassen der Verhinderung eines solchen Tyrannen sollte ja wohl auch kein allgemein gültiges Gesetz sein oder werden. Der kategorische Imperativ hat nämlich auch eine solche, nach aktivem Handeln verlangende Dimension, also – in den Worten der Antike – das reddere suum cuique des Gemeinwesens. Denn das Suum des Gemeinwesen und der Gesamtheit der anderen Menschen ist es, kein Opfer von Grausamkeiten zu sein. Was meinst du? Ich finde das alles ganz interessant.
Bei dem Büchlein, das ich lese (Titel „Über die Gerechtigkeit“), geht es auch um die Einordnung der anderen (von Aristoteles in der Nikomachischen Ethik beschriebenen) Tugenden, wie Vernunft, Tapferkeit, Mäßigung, Gerechtigkeit etc. zueinander. Ich finde das ganz interessant. Immerhin geht es da um mehr als 2000 Jahre alte Weisheit. In diesem Zusammenhang tauchte ein griechischer Spruch (nicht von Aristoteles, sondern von Bias) auf, mit dem ich hier enden will: „archä andra deiseis“, die Herrschaft zeigt wie der Mann ist. Hier geht es um das Zusammenspiel von Vernunft, Mäßigung und Gerechtigkeit. Die Herrschaft verdirbt die Sicht auf die Gerechtigkeit, weil niemand den Herrscher mäßigt und zur Vernunft anhält. In moderner Zeit nennt man das auch die Hybris der Macht.
Ich wünsche dir eine schöne Woche, in der deine Vernunft und dein Sinn für Gerechtigkeit nicht von irgendetwas verstellt werden. Liebe Grüße sendet dir dein Papa