Lieber Matis,
Ich hoffe, es geht dir gut.
Ich lese zur Zeit den neuesten Roman von Jonathan Franzen mit dem Titel Crossroads. In dem Kapitel, das ich heute Nachmittag gelesen habe, schilderte ein junger Student, Clem (das steht für Clemens), weshalb er soeben die Beziehung zu seiner Freundin abgebrochen habe. Er kam dabei auch auf das Verhältnis zu seinem Vater zu sprechen und meinte, dass es gerade die Opposition zu seinem Vater sei, die Ihnen zu dieser Entscheidung gebracht habe.
Ich musste natürlich unwillkürlich an meinen Vater denken und wie meine innerliche Auseinandersetzung mit seinen Überzeugungen, mit seinem Verhalten und mit seiner Person meine eigenen Entscheidungen beeinflusst haben. Das ist natürlich hoch komplex und lässt sich nicht so gut in ein paar Worten zusammenfassen. Du weißt ja noch, dass der Opa ein sehr lieber Mensch war, dass er viele Freunde hatte und im Kreis seiner Familie und Freunde sehr beliebt war und auch von vielen großes Vertrauen genoss. Als Kind in der Grundschule und später bis zum Abitur war ich immer sehr stolz darauf, wenn ich mit dem Opa zusammen samstags den Garten bearbeitet hatte und wir beide abends bei Einbruch der Dunkelheit rechtschaffen müde waren und einen toll gepflegten Garten betrachteten. Aber es gab auch viele Dinge, die mir nicht so gut gefielen. Klar ist auch, dass ich später sicherlich nicht alles von ihm übernommen habe, sondern häufig beschlossen habe, mich möglicherweise genau anders zu verhalten. Ich habe mir auch zum Beispiel vorgenommen, das Verhältnis zu deiner Mutter deutlich besser zu gestalten als das Verhältnis meiner Eltern untereinander; leider ist das nur anfangs gelungen, später zunehmend nicht mehr. Diese Auseinandersetzung mit den Überzeugungen, dem Verhalten, dem Sein der Eltern findet, das ist ganz natürlich, von einer Generation zur anderen statt.
Die Erkenntnis bleibt: unsere Eltern (auch dein Papa und deine Mama) waren/sind keine Engel. Sie hatten/haben ihre Stärken, für die wir sie sehr geschätzt haben/schätzen, und es gab/gibt auch Schwächen. Damit müssen wir uns auseinandersetzen. Das nennt man Ambivalenz.

Lieber Schinski, ich werde mich sehr freuen, wenn wir bald einmal über dieses Thema sprechen können und ich deine Überlegungen dazu erfahren werde.
Liebe Grüße sendet Dir Dein Papa